Spitz auf Knopf – Stummes Reisen
Kolumne von Georg Gafron
Wieder ist Reisezeit, und wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen! So hieß es früher einmal, und zahlreiche Zeugnisse in der Literatur sprechen dafür. Man denke nur an den meisterhaften russischen Schriftsteller Anton Tschechow. In seiner Beschreibung einer längeren Bahnreise entwickelt er vor dem Auge des Lesers ein so tiefgründiges Bild seiner Mitreisenden, dass am Ende ein treffsicheres Sittengemälde der russischen Gesellschaft zur Zarenzeit entsteht. Heute hätte selbst ein Tschechow dazu keine Chance mehr. Denn der tiefe Brunnen, aus dem er schöpfte, waren die unterschiedlichen mehr oder weniger interessanten Dialoge, die spontan entstanden und sich sogar auseinander ergaben.
In unseren Tagen stößt der Reisende auf eine Vielzahl offenkundig autistischer Wesen. Schon die sichtbare Verkabelung jedes Einzelnen schafft Unnahbarkeit und Distanz. Beide Ohren sind verstöpselt, gleichzeitig klopfen die Finger auf einem anderen Gerät zur Kommunikation herum. Fast scheint es so, als sei eine unsichtbare, aber doch zu spürende Kapsel über jeden und jede gestülpt. Welchen Verlust fügen wir uns da eigentlich selbst zu? Nicht mal Smalltalk ist mehr drin, ganz zu schweigen von einem sympathischen Kennenlernen oder gar den Versuchen zarten Flirtens. Wie armselig!
Mittlerweile hat selbst die Familien die Selbstkasteiung des Schweigens fest im Griff. Längst ein gewohnter Anblick, wenn am Nebentisch die Eltern und jedes Kind für sich in seiner eigenen Infokammer unterwegs ist. Man kann über diesen Verlust an ziviler Sprachkultur nur jammern. Zum Trost gibt es ja noch die Novellen von Tschechow, wenn auch nicht im Schulunterricht!